Geschichte

Jede Familie hat ihre eigene Geschichte, die jedoch eingebunden ist in Politik und andere Umstände der jeweiligen Zeit, in der sie lebt. Selbst innerhalb eines Landes gibt es regionale Unterschiede, wirtschaftliche Besonderheiten und religiöse Zugehörigkeit bestimmen und bestimmten das tägliche Leben. Es wird in keinem Fall möglich sein, die Situation sämtlicher Kernfamilien meines Stammbaumes detailliert zu behandeln, dazu fehlen selbstverständlich auch entsprechende Daten. Aus diesem Grund werde ich mich darauf geschränken, Unterschiede aufzuzeigen, beispielsweise zwischen Stadt und Land, Ost und West, Nord und Süd.
Da der überwiegende Teil meiner Vorfahren evangelischen Glaubens war, ist an dieser Stelle die Abgrenzung zu den Katholiken hinfällig. Dennoch ist es sicherlich interessant, einen Blick auf die sich wandelnde Prägung der Lebensumstände durch die Religion zu werfen.

Stadt und Land

Pferdewagen in allensteiner Hauptstraße Städtische Kultur ist in unserer Geschichte eher ein junges Phänomen. Erst mit wachsender Bevölkerung im Zuge der Industrialisierung entwickelten sich mehr und mehr Siedlungen zu Metropolen, die mehr als 100.000 Einwohner zählten. Innerhalb kurzer Zeit kehrte sich das Verhältnis von Stadt- zu Land-bewohnern um. So lebten um 1870 ca. 35 % der Bevölkerung in städtischen Gemeinden, 1910 waren es bereits über 60 %. Zuvor spielte sich das Leben überwiegend im ländlichen Raum ab, so dass es nicht weiter verwunderlich ist, dass wir je weiter wir in der Familiengeschichte zurückgehen, fast nur noch auf Landbewohner treffen. Das Leben der Bauern und Landknechte unterschied sich deutlich von dem der Bürger in den Ballungsgebieten. Und obwohl die "Entwicklung" dort im Gegensatz zu den Städten eher langsam voranstritt, hat sich auch hier das Leben grundsätzlich verändert. Die Geschichte der Bauern ist also ebenso interessant wie beispielsweise die Situation der Handwerker, die sowohl in den Städten als auch im ländlichen Raum zu finden waren. Ganz anders war die Situation der Fabrikarbeiter, die ausschließlich in den großen Ballungsgebieten zu finden waren. Sie tauchen erst mit dem Voranschreiten der Industrialisierung auf, in gewisser Weise traten sie mit dem Handwerk in Konkurrenz.

"Tief im Westen" - Das Ruhrgebiet -

Die Region, die heute als Ruhrgebiet bezeichnet wird, war bis zum Ende des 18ten Jahrh. lediglich dünn besiedelt und von der Landwirtschaft geprägt, ähnlich wie der übrigen Teil Preußens. In der zweiten Hälfte des 19ten Jahrh. kam es jedoch zu einem ungleichmäßigen Wachstumsprozess, Industrien entwickelten sich in bestimmten Regionen, darunter auch das Ruhrgebiet, besonders intensiv. In der heutigen Form gibt es das "Revier" also noch nicht viel länger als 150 Jahre.
Das bedeutet, dass keine der Städte eine antike Tradition vorweisen kann, erst ab dem 12ten Jahrh., also ab dem frühen Mittelalter entstanden Städte wie Duisburg, Dortmund, Bochum, Mülheim, Essen und Unna entlang der ‚via regis', dem alten Ost/West-Reise- und Handelsweg von Karl dem Großen. In Duisburg und Dortmund wurden Königshöfe errichtet, die beiden Städte verloren aber bis Ende des Mittelalters an Bedeutung, da die Regenten ihr Interesse nach Süddeutschland verlagerten. Die alte Straße besann sich nun ganz auf ihre Funktion als Handelsweg und wurde fortan Hellweg genannt, da neben anderen Gütern vor allem der Salzhandel großen Reichtum versprach. Auch strömten die Menschen auf ihm gen Osten, um dort im Zuge des Landausbaus neu erschlossenes Land zu besiedeln. Das ‚Hinterland' abseits des Hellweges blieb sehr dünn besiedelt, während sich die Anrainerstädte teils prächtig entwickelten, wie z.B. Dortmund, das zur Hansestadt wurde. Wegen seiner verkehrsgünstigen Lage erlangte Mülheim später eine besondere Bedeutung, denn hier überquerte der Hellweg die Ruhr.
Der eigentliche Motor des rasanten Wachstums im Ruhrrevier war ohne Zweifel die Kohle im Untergrund, die sich vom Ruhrtal bis in die Emscherzone erstreckte. Zur Deckung des Eigenbedarfes wurde sie schon im 13ten Jahrh. bei Duisburg und Essen, später auch bei Witten abgebaut. Die Vorkommen lagen jedoch dicht unter der Grasnabe, so dass man eher von Kohlengräberei als von Bergbau sprechen konnte. Dennoch entwickelte sich die Kohle zu einem begehrten Handelsgut, das auf der schon im 18ten Jahrh. durch Wehre und Schleusen schiffbar gemachten Ruhr vor allem nach Holland verschifft wurde. Entlang der Ruhr siedelten sich nun im Zuge der Industrialisierung, die ausgehend von England über Belgien auch das Ruhrgebiet erreichte, Metallindustrien an. Die Entwicklung des Bergbaus wurde vorangetrieben, u.a. durch Rekrutierung von Facharbeitern aus Italien oder den deutschen Mittelgebirgen. 1833 wurde erstmals ein Tiefschacht angelegt, der es nun möglich machte, die ‚Fettkohle' aus den unteren Bodenschichten zu fördern, die sich im Gegensatz zur Magerkohle aus den oberen Schichten zum Verkoken eignete. Diesen Koks benötigte die Schwerindustrie zur Verhüttung, also zur Roheisen- und Stahlerzeugung in ihren Hochöfen. In den Kokereinen fielen Nebenprodukte wie Teer und Gas an, die die Grundlage zur Gründung der Chemischer Industrie bildeten.

Dampfmaschinen-Werk der Firma Dinnendahl an der Ruhr, Radierung um 1937 Zur Aufrechterhaltung der Industrien mit enormem Energieverbrauch musste die kontinuierliche Förderung der Kohle sichergestellt werden, so dass ständig neue Zechen angelegt wurden, die den Verläufen der Flöze folgend vom Ruhrtal aus in den Norden wanderten. Das führte zu einer ungebremsten Landnahme durch Schwerindustrie und dem vom preußischen Staat beaufsichtigen Bergbau. Wo Kohlevorkommen entdeckt wurden entstanden Zechen und Produktionsanlagen und mit ihnen riesige Abraumhalden und Zechenkolonien, die Siedlungen der Bergleute und Fabrikarbeiter. Die Folge war eine Siedlungsstruktur, die eine ungeheure Expansion der vormals kleinen Ortschaften nach sich zog. Statt von Urbanisierung konnte man jedoch nur von Verdichtungsräumen sprechen, denn städtisches Leben konnte sich in Dörfern, die innerhalb kurzer Zeit auf Einwohnerzahlen über 100.000 anwuchsen, kaum entwickeln.
Für das Wachstum von Bergbau und Industrie wurde eine riesige Anzahl an Arbeitskräften benötigt, wobei jetzt nicht mehr Facharbeiter sondern vielmehr Massen an einfachen Arbeitern für die Verrichtung körperlicher Arbeit gefragt waren. Zunächst wurde dieser Bedarf durch den Zuzug aus der ländlichen Umgebung gedeckt, ab 1880 war das jedoch längst nicht mehr ausreichend. Ab dieser Zeit wurden deshalb immer mehr Neubürger aus den Ostgebieten (Ost- und Westpreußen, Pommern, Posen und Schlesien) rekrutiert. Bis zum Jahr 1870 hatte sich die Bevölkerung des Ruhrgebietes bereits verzehnfacht, jetzt kamen weitere 700.000 Einwohner hinzu.

"Schlesien war nie mein" - Die Ostgebiete -

Nach der Völkerwanderung im vorletzten Jahrtausend setzte die Tendenz zur Vereinigung mehrerer Stämme ein, so dass sich auf germanischem Gebiet grob die Volksgruppen der Friesen (Nordseeküste), Sachsen (Nord-Osten), Thüringer (zwischen Saale und Weser), Hessen (westlich der Weser), Franken, (Rhein-Main-Gebiet), Alemannen (südlich des Rheins) und die Baiern (Donau-Alpen-Gebiet) bildeten. Die aus diesen Stammesgebieten gebildeten Herzogtümer wurden von Franken aus größtenteils unterworfen, das aufstrebende Frankenreich erreichte um 700 seine Blütezeit. Nach den Friesen wurden die heidnischen Sachsen im Osten als letztes eigenständiges Volk von Karl dem Großen blutig unterworfen. Nun musste man dem Druck auf die neu abgesteckten Stammesgrenzen an der Elbe durch die Slawen Herr werden. Dazu richtete Karl der Große oder vielmehr die ihm nachfolgenden Frankenkönige sog. Grenzmarken ein, die die instabilen Reichsgrenzen stabilisieren sollten. Diese durch lokale Feldzüge eroberten Gebiete wurden mit Bürgern des Reiches besiedelt, die mit Landbesitz und Privilegien (z.B. Erb- und Verfügungsrecht über Güter) gelockt wurden. Neben der Grenzabsicherung kam noch ein zweiter wichtiger Aspekt dazu, nämlich dass die Neubürger neben ihrer Kultur auch ihre Religion mitbrachten und so wurde die Neubesiedlung mit deutschen Bauern, Handwerkern und Kaufleuten ein wichtiges Instrument zur Christianisierung der zu diesem Zeitpunkt noch immer heidnischen Ostgebiete.
Dies war nur der Beginn der sog. Ostkolonisation. Dem Beispiel der Frankenkönige folgte später der deutsche Kaiser Otto I., der Magdeburg zu seinem "Missionszentrum des Slawenlandes" ernannte. Ebenso wie ansässige slawische Fürsten und Herzöge, die nach dem Zerfall des polnischen Staates in viele autonome Teilfürstentümer durch den Ruf der deutschen Neubürger ihre Staatskasse und ihre Machtstellung vergrößern wollten. Und das gelang ihnen auch, denn die Deutschen erschlossen mit ihren fortschrittlichen landwirtschaftlichen Methoden brachliegendes Land, legten viele Dörfer und Städte (meist mit eigenem Recht) an, bauten wichtige Infrastruktur und sogar Bergwerke auf. Die Bevölkerung wuchs erheblich und damit der kulturelle und sprachliche Einfluss der deutschen Siedler. Teils vermischten sich die slawischen Ureinwohner mit ihnen, teils bildeten sich Minderheiten wie z.B. die Sorben in der Lausitz oder die Kaschuben in Ostpreußen und Pommern. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass diese Landstriche in vielen Fällen dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation angegliedert wurden, wobei die ansässigen Fürsten zu Reichsfürsten wurden. Man kann sagen, dass die Ostkolonisation im Mittelalter zu einem Instrument der schleichenden Ausdehnung des Deutschen Macht- und Siedlungsraumes wurde.

Tab.1 Siedlungsgruppen in den Ostgebieten
Zeitachse Böhmen & Mähren Pommern Schlesien Westpreußen Ostpreußen
12tes Jahrh. Baiern, Obersachsen, Schlesier Niedersachsen, Flamen
13tes Jahrh. Franken Sachsen, Friesen, Holländer, Flamen Mittelfranken, Hessen, Thüringer, teilw. Baiern, Schwaben, Niedersachen Westfalen, Sachsen, Friesen Flamen
14tes Jahrh. Sachsen, Friesen, Holländer, Flamen
15tes Jahrh. Masuren, Litauer
16tes Jahrh. Holländer, Flamen, Friesen, Rheinländer (Mennoniten) Holländer
17tes Jahrh. Hugenotten Hugenotten
1720 - 1740 Salzburger , Pfälzer, Nassauer, Schweizer (Protestanten)


1350 hielt die Pest ihren Einzug nach Deutschland, wobei sie ausgehend von Frankreich von Südwest nach Nordost wie eine Welle über das Land hinwegrollte. Neben der Tatsache, dass sie bis zum Ende des Jahrh. etwa ein Drittel der gesamten Bevölkerung auslöschte zog sie auch einen religiösen Fatalismus mit sich, der in Geißelzügen und Judenmorden gipfelte. Wirtschaftlich brachte die Pest den Verbliebenen jedoch höhere Löhne, denn Arbeitkräfte wurden knapp. Das war auch der Hauptgrund für den verebbenden Strom der Siedler in den Osten, neben der Tatsache dass dort mittlerweile die ertragreichsten Siedlungsgebiete besetzt waren.
In den nachfolgenden Jahrhunderten nahm die Geschichte der Ostgebiete einen unterschiedlichen Lauf. Während die Bevölkerung von Ost- und Westpreußen unter der Auseinandersetzung der polnischen Könige mit den nachfolgenden Herzögen des Deutschen Ordens ("Schmutziger Krieg" 1454 bis 1466, Siebenjähriger Krieg 1756 bis 1763) zu leiden hatte, wurde Schlesien zum Spielball der Macht zwischen Preußen und Österreich (Schlesische Kriege 1740 bis 1745). Immer wieder kam es aufgrund der kriegerischen Auseinandersetzungen im 17ten und 18ten Jahrh. und der damit verbundenen wirtschaftlichen und sozialen Unsicherheiten in deutschen Ländern zu phasenweisen Auswanderungsbewegungen. Durch die Erweiterung sowohl Preußens als auch Österreichs gen Osten wurden neben Übersee erneut die Gebiete östlich von Preußen zu erklärten Zielen der neuerlichen Siedler. Teilweise wurden sie wieder von der Obrigkeit gerufen, wie z.B. bei der Ansiedlung Deutscher im Wartheland (Friedrich der Große) oder an der Wolga (Katharina I. von Russland).
Im 19ten Jahrh. hielt die Tendenz zur Abwanderung aus Deutschland weiter an, vor allem getrieben von der stark wachsenden Bevölkerungszahl im Zuge der Industrialisierung, aber auch durch strukturellen Wandel, der den unteren Bevölkerungsschichten vielfach die Perspektive nahm. Jetzt war jedoch vor allem Übersee das Ziel der Siedler, auch wanderten viele arbeitslosen Bürger aus den eher landwirtschaftlich ausgerichteten Ostgebieten im Zuge der sog. "Kampagne" in die großen industriellen Ballungsgebiete an Ruhr und Saale. Der Siedlerstrom ging jetzt also in die andere Richtung, mit ihm verschob sich die Bevölkerungs- und Wirtschaftsdichte von Ost nach West und führte zu einer Verarmung der Ostprovinzen. Als Folge des 1ten Weltkrieges verlor das Deutsche Reich unter Bismarck vor allem Gebiete der östlichen Provinzen wie Posen und Westpreußen ("Polnischer Korridor"), das Memel-Gebiet, und Teile Oberschlesiens, die teils polnisch, teils russisch wurden. Aber das 20te Jahrh. hatte noch größere Prüfungen für die Ostgebiete parat, die nur 14 Jahre später mit der Machtergreifung Hitlers ihren Anfang nahmen.
Bereits vier Tage nachdem er Reichskanzler wurde verkündete Hitler die Eroberung des "Lebensraumes im Osten" und kündigte damit die Okkupation Polens und weiterer östlicher Länder an. Ab 1939 schloss er mit Russland und anderen östlichen Staaten mehrere Abkommen, die die Umsiedlung Millionen deutscher Siedler "Heim ins Reich" vorsah. Sie wurden vor allem in den eingegliederten Gebieten auf ehemals polnischem Gebiet angesiedelt, das mittlerweile von Polen "gesäubert" worden war. Die Deutschen in diesen Ländern, die dieser Aufforderung nicht Folge geleistet hatten, wurden nach Kriegsbeginn entweder zur Zwangsarbeit verschleppt oder einfach verfolgt und getötet. Ähnlich erging es den deutschen Volksgruppen im Südosten (Ungarn, Rumänien, Jugoslawien) als die Ostfront zum Kriegsende zusammenbrach. In Ostpreußen war die Lage noch kritischer, da der Landweg zum Rest des "deutschen Bodens" fehlte. Unzählige Menschen starben auf der Flucht vor der Roten Armee durch Kälte, Hunger, Entkräftung oder durch die Hände der zuvor von den Deutschen drangsalierten Einheimischen. Nach der Kapitulation beschlossen die Vertreter Russlands, Polens und die Alliierten die "Umsiedelung" aller ostwärts der Oder-Neiße-Linie, aller in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei lebenden Deutschen. Insgesamt wurden etwa 15 Millionen Deutsche vertrieben, wovon fast 3 Millionen auf der Flucht ums Leben kamen. Dazu kamen die Polen, die aus den an Russland abgetretenen Gebieten vertrieben und auf die von den deutschen Siedlern "verlassenen" Ländereien zwangsumgesiedelt wurden. Die Folgen des zweiten Weltkrieges waren die größte erzwungene Migrationsbewegung der Menschheitsgeschichte, die innerhalb weniger Jahre Millionen von Menschen entwurzelte.

Abb.21 Flüchtlingstreck
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